Beispiel: Plat.Prot. 336 c2 δοῦναι τε καὶ δέξασθαι λόγον

Ausgangsfrage:
Platon verwendet Im Protagoras (336c-d) die Formulierung δοῦναι τε καὶ δέξασθαι λόγον im Kontext des Rechenschaftsgebens. Dies weicht von dem üblichen λόγον διδόναι, das in Athen in der Regel für das Ablegen von Rechenschaft gebraucht wird, so deutlich ab, daß die Phrase δοῦναι τε καὶ δέξασθαι λόγον ein lohnender Kandidat ist, um mit Hilfe der Paraphrasensuche nachzuforschen, inwieweit Platon nicht nur in der Formulierung, sondern ggf. auch inhaltlich von der üblichen Ausdrucksweise abweicht und ob diese Abweichung Spuren in der nachplatonischen Tradition hinterlassen hat.

Suchabfrage:
Die Suche nach δοῦναι τε καὶ δέξασθαι λόγον wird in das Suchfeld der Paraphrasensuche eingegeben (Einstellungen: rWMD, Überprüfung auch von Textstellen mit ± halber Länge, ansonsten keine weiteren Filter)

Auswertung:
Die Suche nach δοῦναι τε καὶ δέξασθαι λόγον zeigt zum einen die Parallelstellen bei Platon (Theaitetos 177b und 202, Politikos 285 e-286a, und etwas abgewandelt rep. VII 531 e4) sowie bei Iamblich im Protreptikos (Iambl., protr. 77,19 Pistelli ) wie auch bei Eusebius in der Praeparatio Evanglica Eus., Pr.Ev. 12,29,21,2-3 Mras) und in der Anthologie des Stobaios (Stob. Anthol 2,4,16, Z.78 Hense) ein wörtliches Zitat aus dem Theaitetos (172c-177b). Außerhalb dieses direkten Bezuges auf Platon läßt sich die Phrase nicht nachweisen, lediglich bei Herodot 4,77 ist eine einzige, frühere Belegstelle zu finden.

Ergebnis:
Dieses Ergebnis führt auf die Überlegung, daß die Erweiterung des Rechenschaftsgebens um die zweite Position desjenigen (Rechenschaft geben und annehmen), der die Rechenschaft auch annimmt, sehr spezifisch für die platonische Vorstellung des echten, diskursiven Austauschs gewesen ist (vgl. ausf. Ch.Schubert, δοῦναι τε καὶ δέξασθαι λόγον in Schubert, Molitor, Scharloth, Sier, Platon Digital, Heidelberg 2019, S. 235-249; online: https://doi.org/10.11588/propylaeum.451).

Beispiel: Thuk. 2,65, 9 ἐγίγνετό τε λόγῳ μὲν δημοκρατία, ἔργῳ δὲ ὑπὸ τοῦ πρώτου ἀνδρὸς ἀρχή

Ausgangsfrage:
Die berühmte Aussage des Thukydides über Perikles‘ Dominanz in Athen („Es war dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit eine Herrschaft durch den ersten Mann.“) ist in der Antike auf zitiert worden, in der Regel wörtlich. Gerade daher stellt sich die Frage, ob es auch eine indirekte Überlieferung gegeben hat, die diese Formulierung nicht nur aufgegriffen, sondern ggf. auch anders kontextualisiert hat.

Suchabfrage:
Die Suche nach ἐγίγνετό τε λόγῳ μὲν δημοκρατία, ἔργῳ δὲ ὑπὸ τοῦ πρώτου ἀνδρὸς ἀρχή wird in das Suchfeld der Paraphrasensuche eingegeben (Einstellungen: rWMD, Überprüfung auch von Textstellen mit ± halber Länge, ansonsten keine weiteren Filter).

Auswertung:
Die Suchabfrage führt sowohl die bekannten, wörtliche Zitate der thukydideischen Formulierung auf (u.a.Plut.Perikles 9,1 und Praecepta gerendae reipublicae 802 c2; Aelius Aristides , Πρὸς Πλάτωνα ὑπὲρ τῶν τεττάρων 121, 6 Dindorf; Olympiodorus, In Platonis Alcibiadem commentarii 29,7 Westerink; Constantinus Porphyrogenitus, De virttutibus 2, 37, 24 Büttner-Wobst) als auch paraphrasierende Anspielungen wie Cassius Dio 56, 39,5, die in der Liste der Suchfunde mit der o.g. Einstellung folgendermaßen angezeigt wird (Markierung wie in der Anzeige der Stellen):
λ’ ἅτε εὖ εἰδότες ὅτι δημοκρατία μὲν οὔποτ’ ἂν τηλικού‐ τοις πράγμασιν ἁρμόσειεν, προστασία δὲ ἑνὸς ἀνδρὸς μάλιστ’ ἂν αὐτὰ σώσειεν, οὔτε λόγῳ μὲν ἐπανελθεῖν ἐς τὴν αὐτονομίαν ἔργῳ δὲ ἐς τοὺς στασιασμοὺς ἠθελήσατε, καὶ ἐκεῖνον, ὃν αὐτοῖς τοῖς ἔργοις ἐδεδοκιμάκειτε, προκρίναν

Ergebnis:
Die in dem Ergebnis der Paraphrasensuche aufgeführte Stelle aus Cassius Dio steht in der Totenrede auf Augustus (Cass. Dio 56,39,5-6), die Cassius Dio dessen nachfolger Tiberius 14 n.Chr. öffentlich halten läßt:
ὅθενπερ καὶ ὑμεῖς, καλῶς ποιοῦντες καὶ ὀρθῶς φρονοῦντες, οὐκ ἠνέσχεσθε οὐδὲ ἐπετρέψατε αὐτῷ ἰδιωτεῦσαι, ἀλλ' ἅτε εὖ εἰδότες ὅτι δημοκρατία μὲν οὔποτ' ἂν τηλικούτοις πράγμασιν ἁρμόσειεν, προστασία δὲ ἑνὸς ἀνδρὸς μάλιστ' ἂν αὐτὰ σώσειεν, οὔτε λόγῳ μὲν ἐπανελθεῖν ἐς τὴν αὐτονομίαν ἔργῳ δὲ ἐς τοὺς στασιασμοὺς ἠθελήσατε , καὶ ἐκεῖνον, ὃν αὐτοῖς τοῖς ἔργοις ἐδεδοκιμάκειτε, προκρίναντες ἠναγκάσατε χρόνον γέ τινα ὑμῶν προστῆναι

„Gut habt ihr daher von euerer Seite daran getan und euch klug bedacht, als ihr euch nicht damit einverstanden erklärtet und ihm nicht erlaubtet, sich ins Privatleben zurückzuziehen. Wohl bewußt, daß eine Demokratie sich niemals für derart riesige Aufgaben sich als geeignet erweisen, die Leitung eines einzigen Mannes hingegen sie am ehesten lösen dürfte, wolltet ihr nicht zu dem Zustand zurückkehren, der nur zum Schein Unabhängigkeit, in Wirklichkeit jedoch Parteienhader war. Und indem ihr ihn erwähltet, den ihr gerade auf Grund seiner Taten erprobt hattet, zwangt ihr ihn, wenigstens für eine gewisse Zeit euer Führer zu sein.“ (Übersetzung Veh 2012)

Cassius Dio verwendet hier eine Paraphrase der berühmten Stelle bei Thukydides 2,65,9 in einer der zentralen Passagen seines Werks (der Totenrede des Tiberius für Augustus) zur Charakterisierung des augusteischen Prinzipats. Daran läßt sich die Überlegung anschließen, daß Cassius Dio damit nicht nur die Beziehung zwischen Volk und Herrscher in der Zeit des augusteischen Prinzipats deutlich machen will, sondern auch eine eigene und grundsätzliche Einschätzung von Demokratie und Monarchie gibt (vgl. dazu ausf. Ch. Schubert, Eine Thukydides-Paraphrase in der Totenrede des Tiberius auf Augustus: Cassius Dios Sichtweise des augusteischen Prinzipats, in: Antike und Abendland 64, 2018, S. 79-92).

Beispiel: Lukian Charon 6,1ff. und Platon Kritias 107 a-d

Das hier vorgestellte Beispiel wurde im Rahmen der Projektarbeit mit beiden Verfahren zur Paraphrasensuche gefunden: Einerseits handelte es sich um eines der ausgegebenen Ergebnisse der n-Gramm-basierten Paraphrsensuche, bei welcher als zu vergleichende Texte Lukians Charon und Platons Kritias vorausgesetzt waren, andererseits wurde, ausgehend von der Platonpassage, der Lukianpassus als Ergebnis der Paraphrasensuche der WMD (in verschiedenen Konfigurationen) ausgegeben. Die relevanten Passagen lauten (mit Hervorhebung des Teil, der als Paraphrase im engeren Sinne gelten darf):

Platon, Kritias 107b-c
τὴν δὲ τῶν γραφέων εἰδωλοποιίαν περὶ τὰ θεῖά τε καὶ τὰ ἀνθρώπινα σώματα γιγνομένην ἴδωμεν ῥᾳστώνης τε πέρι καὶ χαλεπότητος πρὸς τὸ τοῖς ὁρῶσιν δοκεῖν ἀποχρώντως μεμιμῆσθαι, καὶ κατοψόμεθα ὅτι γῆν μὲν καὶ ὄρη καὶ ποταμοὺς καὶ ὕλην οὐρανόν τε σύμπαντα καὶ τὰ περὶ αὐτὸν ὄντα καὶ ἰόντα πρῶτον μὲν ἀγαπῶμεν …

Betrachten wir aber die Darstellungskunst der Maler auf dem Gebiet der göttlichen und menschlichen Körper unter dem Gesichtspunkt von Leichtigkeit und Schwierigkeit, den Betrachtern den Eindruck hinreichender Nachahmung zu erwecken, so werden wir sehen, dass bei Erde, Bergen, Flüssen, Wald, dem ganzen Himmel und allem, was an ihm sich findet und bewegt, wir erstens zufrieden sind, wenn jemand nur einigermaßen imstande ist, etwas so darzustellen, dass es ihnen ähnlich ist, … (Ü. H. Müller, bearb. v. K. Widdra)

und Lukian, Charon 6,1ff.
Χάρων: ὁρῶ γῆν πολλὴν καὶ λίμνην τινὰ μεγάλην περιρρέουσαν καὶ ὄρη καὶ ποταμοὺς τοῦ Κωκυτοῦ καὶ Πυριφλεγέθοντος μείζονας καὶ ἀνθρώπους πάνυ σμικροὺς καί τινας φωλεοὺς αὐτῶν.
Χάρων: οἶσθα οὖν, ὦ Ἑρμῆ, ὡς οὐδὲν ἡμῖν πέπρακται, ἀλλὰ μάτην τὸν Παρνασσὸν αὐτῇ Κασταλίᾳ καὶ τὴν Οἴτην καὶ τὰ ἄλλα ὄρη μετεκινήσαμεν;
Ἑρμῆς: ὅτι τί;
Χάρων: οὐδὲν ἀκριβὲς ἐγὼ γοῦν ἀπὸ τοῦ ὑψηλοῦ ὁρῶ· ἐδεόμην δὲ οὐ πόλεις καὶ ὄρη αὐτὸ μόνον ὥσπερ ἐν γραφαῖς ὁρᾶν, ἀλλὰ τοὺς ἀνθρώπους αὐτοὺς καὶ ἃ πράττουσι καὶ οἷα λέγουσιν.

Charon: „Ich sehe viel Land und drum herum eine große Wasserfläche und Berge und Flüsse, größer als der Kokytos und der Pyriphlegethon, und Menschen, ganz kleine, und einige ihrer Höhlen.“
Hermes: „Das sind Städte, was du für Höhlen hältst.“
Charon: „Ist dir eigentlich klar, dass wir gar nichts zustande gebracht haben, Hermes, sondern umsonst den Parnassos samt der kastalischen Quelle, den Oeta und die anderen Berge versetzt haben?“
Hermes: „Warum das?“
Charon: „Ich jedenfalls kann aus der Höhe nichts genau erkennen. Ich wollte nicht Städte und Berge, und das nur wie auf Bildern, sehen, sondern die Menschen selbst und was sie tun und reden.“ (Ü. E. Wöckener-Gade)

Visualisierung der Parallelen mithilfe des Referenzannotierers:

Kurzanalyse1
Inhaltlich handelt es sich oberflächlich zunächst jeweils um eine Landschaftsbeschreibung aus der Sicht eines Betrachters, bei der die Elemente Erde (γῆν), Berge (ὄρη) und Flüsse (ποταμοὺς) wortwörtlich übereinstimmen, mit denselben Konjunktionen verbunden sind und auch in derselben Reihenfolge erscheinen. Für die Beschreibung des Sehaktes weichen die Formulierungen allerdings voneinander ab und bei beiden Autoren finden sich weitere, nicht übereinstimmende Elemente der Landschaft (Wald, Himmel mit Bewohnern / Wasserfläche, Menschen und ihre Höhlen).


Zudem ist der Passus bei Platon in einen größeren Sinnzusammenhang mit komplexer Konstruktion eingebunden: es geht um Kunstbetrachtung, also um eine künstliches Abbild einer Landschaft und deren Beurteilung. Dieses Motiv ist bei Lukian im folgenden aufgenommen, indem die Betrachtung der realen Landschaft mit der einer künstlichen verglichen wird (ὥσπερ ἐν γραφαῖς – wie auf Bildern). Diese und weitere inhaltliche wie sprachliche Überschneidungen legen neben den zu konstatierenden Unterschieden nahe, den Lukianpassus als (nicht markierte) Anspielung auf die Platonpassage zu deuten.


1 Für eine umfassende Interpretation unter Einbeziehung weiterer intertextueller Bezüge vgl. den Beitrag: E. Wöckener-Gade Mehr als nur Platons Werke – Platonisches in Lukians Charon 5-6 in Schubert, Molitor, Scharloth, Sier, Platon Digital, Heidelberg 2019, S. 235-249; online: https://doi.org/10.11588/propylaeum.451